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Kurz vor Weihnachten 2011 kam ich spät nachmittags von einer Wanderung durch die Willrother Gemarkung ins Dorf zurück. Um meinen Heimweg abzukürzen, stieg ich die Freitreppe gegenüber dem Dorfgemeinschaftshaus hoch und wollte, oben angekommen, in die Neue Straße einbiegen. Da hörte ich links von mir jemanden reden. Wer das war, konnte ich zuerst nicht erkennen, denn es war bereits dunkel. Etwas erstaunt und, - ich gebe es zu - , auch neugierig blieb ich stehen. Und so wurde ich Zeuge eines langen Zwiegespräches, das ich nachfolgend, so gut wie ich mich daran erinnern kann, wiedergeben möchte: 

A:  Was willst du denn hier und warum drängst du dich hierhin auf meine Wiese? Wer bist du eigentlich? Hättest dich ja wenigstens mal vorstellen können! 

B:  Ich dränge mich überhaupt nicht auf diese Wiese hier, die du als die deinige bezeichnest.
Der Bürgermeister und die Gemeindearbeiter haben mich hierhin gesetzt. Hier ist doch Platz genug für zwei Steine. Übrigens stehe ich ja auf der anderen Seite des Weges und werde dir bestimmt nicht auf die Füße fallen.
 

"Na, so etwas!", dachte ich. "Ist wohl doch etwas an der Sache dran zu sein, wenn man gelegentlich hört: "Wenn Steine reden könnten!" In Willroth jedenfalls scheinen sie es zu können. Meine ganze Aufmerksamkeit war plötzlich geweckt. Und so setzte sich das Zwiegespräch fort:

A:  Ich habe dich schon beobachtet, als man dich hierhin geschleppt und hier aufgestellt hat.
Du ähnelst mir übrigens ein wenig. Deshalb bist du mir aber noch lange nicht sympathisch. Und warum bist du nicht dort geblieben, wo du vorher warst?

B:  Das habe ich mich anfangs auch gefragt. Aber aus den Gesprächen, die der Bürgermeister mit den Gemeindearbeitern geführt hat, konnte ich entnehmen, weshalb ich meinen alten Standplatz verlassen musste. Hätte man mich nicht von dort weggeholt, dann hätten schwere Maschinen mich niedergewalzt und zerstört.

A: Welche Maschinen?

B: Nun, Maschinen, die man braucht, um aus einem Waldgebiet ein Industriegebiet entstehen zu lassen. Willroth bekommt ein eigenes Industriegebiet, musst du wissen. Nicht weit vom so genannten "Neustädter Stock", einige Hektar groß, wie ich hören konnte. Verstehst du nun, warum ich von dort weggeholt wurde?

A: Das verstehe ich sogar sehr gut. Was du da sagst, erinnert mich nämlich an meine eigene Geschichte. Auch ich wäre beinahe unter die Räder gekommen. Das war, als die ICE-Strecke von Köln nach Frankfurt in den Jahren 1999 und 2000 gebaut wurde. Bis dahin habe ich seit 1776 unbehelligt die Grenze zwischen der Grafschaft Wied-Dierdorf und dem Churfürstentum Trier, dem Willroth früher angehörte, gewiesen. Dann hat man wegen der ICE- Strecke die Autobahn im Willrother Bereich begradigen müssen. Zum Glück hat man mich damals auch vor den Baumaschinen gerettet. Wenn du über meine Geschichte alles genau nachlesen möchtest, dann wende dich an den Willrother Bürgermeister, wenn er mal wieder hier vorbeikommt. In seinem Archiv verwahrt er ein Schriftstück, das darüber genaue Auskunft gibt.
Aber da wir ja nun, wie sich herausgestellt hat, das gleiche Schicksal haben, wäre es nett von dir, wenn du mir deine Geschichte ausführlich erzählst. Ich höre dir auch aufmerksam zu. Verzeih mir bitte mein unhöfliches Verhalten zu Anfang unseres Gespräches. Wir werden viel Zeit haben hier vor dem Dorfgemeinschaftshaus. Oder glaubst du, man wird uns auch von hier wieder wegholen und wo anders hinsetzen?

B: Nun, meine Geschichte rührt fast aus der gleichen Zeit wie die deinige. Da, wo ich stand, nämlich genau seit dem Jahr 1788, hat es zuvor immer wieder Grenzstreitigkeiten und Ärger zwischen den Churtrierischen Untertanen und den Wiedischen Behörden gegeben: Mal sollen die Willrother angeblich auf Wiedischem Gebiet westlich des "Neustädter Stocks" Holzdiebstahl begangen haben, mal die Hümmericher auf Churtrierischem Gebiet, also im Willrother Wald.
Sogar Handgreiflichkeiten mit den Waldwärtern und Förstern hat es gegeben.
Forststrafen wurden von beiden Seiten verhängt. Der Willrother Kuhhirte, dem man das Vieh pfänden wollte, weil er es angeblich im Wiedischen Wald weiden ließ, hat sich mit einem Stock zu wehren gewusst. Ein Krunkeler Einwohner wurde einmal vom Wiedischen Förster verhaftet und wegen angeblichen Holzdiebstahls in Neuwied eingekerkert, bis für ihn ein Strafgeld gezahlt wurde. Ein Horhausener Pfarrer hatte den Mut, in das Haus des Wiedischen Waldwärters in Hümmerich einzudringen und dort die Axt, die dieser einem Krunkeler Einwohner wegen unterstelltem Forstfrevel abgenommen hatte, wieder herauszufordern.
Diese und andere Vorfälle im Grenzbereich der beiden Landesherrschaften auf dem Willrother Berg kamen natürlich den beiden Landesherren zu Ohren. Das Churfürstentum Trier, dem Willroth seit jeher angehörte, wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Churfürst Wenzeslaus regiert. Die untere Grafschaft Wied, auch Grafschaft Wied­Neuwied genannt, hatte Fürst Friedrich Carl zum Landesherrn. Wie ich gehört habe, sollen die beiden hohen Herren über die ständigen Grenzvorfälle recht erbost gewesen sein.
Andererseits, so habe ich aber auch vernommen, haben sie selbst höchstpersönlich zu diesen Streitereien im Bereich des Willrother Berges beigetragen. Dabei ging es um Wichtigeres als um Holz und Viehweiderechte. Seit Jahrhunderten wurde nämlich auf dem Willrother Berg erfolgreich nach Erz gegraben, wovon natürlich jede Seite den größten Anteil für sich beanspruchte. Ob es dabei auch um Streitereien in den Pingen und Schürfgräben gekommen ist, weiß ich allerdings nicht. Unter Tage soll es vorgekommen sein, dass der jeweils anderen Seite vorgeworfen wurde, sie sei mit ihren Stollen schon bis ins fremde Territorium vorgedrungen.
Letztlich haben beide Landesherren jedoch eingesehen, dass den dauernden üblen Grenzauseinandersetzungen ein für alle Mal ein Ende gesetzt werden müsste. Und so sind sie übereingekommen, miteinander den genauen Grenzverlauf zwischen ihren Territorien genau zu regeln. Und weil es auch im benachbarten Gebiet zwischen Willroth und der Gierender Gemarkung wie auch zwischen Hümmerich und den Churtrierischen Ortschaften Krunkel und Epgert ebenfalls Unstimmigkeiten gab, hat man den gesamten Grenzverlauf von der Gierender Höhe bis zur Siedlung Marhähnen im Epgerter Wald in langen Verhandlungen in der Zeit von 1786 bis 1788 genau festgelegt.
Zuletzt hat man einen viele Seiten langen Vertrag aufgesetzt, in dem zu lesen steht, woher die Grenze genau verläuft. Es wurde vereinbart, dass insgesamt entlang dieser Grenzlinie 51 Grenzsteine zu setzen seien. Ich war der Stein mit der Nummer 12. Jedem von uns Steinen wurden auf der einen Seite die Buchstaben CT und auf der anderen die Buchstaben NW eingemeißelt, womit die Churtrierische beziehungsweise die Neu-Wiedische Seite angedeutet wurde.
Die Herren legten auch genau die Distanzen zwischen allen Steinen fest. Gemessen wurde in "Ruthen" und "Schuh". Auch bemerkten die Herren in dem Vertrag genau, wenn der Grenzverlauf bei einzelnen Steinen seine Richtung änderte.
Als ich im Jahr 1788 meinen festen und, wie ich damals glaubte, für die Ewigkeit bestimmten Standort einnehmen konnte, war ich überzeugt, eine ruhige Zukunft vor mir zu haben. Doch: Ein Stein denkt und der Mensch lenkt. Kaum war ein Jahr vergangen, als sich eine ganze Schar kräftiger Männer mit Hacken und Schaufeln im Wald nahe meinem Standort und dem der übrigen Grenzsteine zu schaffen machte. Sie hoben dicht an uns vorbei einen tiefen Graben aus, der sich weit durch den Wald dahinzog. Ich hörte sie miteinander sprechen und auch manchmal erbost schimpfen. Wir Steine allein seien zur Markierung der Grenzlinie zwischen Churtrier und Wied von der Gierender Höhe bis Marhähnen nicht ausreichend. Wie leicht könne man uns nämlich bei Nacht und Nebel versetzen. Also müsse zusätzlich ein Grenzgraben ausgehoben werden.
Die Männer äußerten erbost ihren Verdruss darüber, dass sie die schwere Arbeit des Grabens und Schaufelns als unbezahlten Frondienst auszuführen hatten. Wer das nicht konnte oder wollte, musste zum Ersatz für die nicht geleistete Arbeit bares Geld bezahlen, das heißt, ein so genanntes "Geldäquivalent" entrichten. So war es von beiden Landesherrschaften verfügt worden.
Übrigens: Bis zu dem Tag, als die Willrother Gemeindearbeiter mich von meinem Standort wegholten, - das war vor wenigen Tagen -, konnte ich vor mir den tief ausgehobenen Grenzgraben immer noch sehen. Ich vermute, die modernen Maschinen haben ihn unterdessen zerstört. So ein Graben ist ein so genanntes Bodendenkmal.
Aber, wen kümmert das heutzutage schon?
So, nun habe ich dir meine Geschichte erzählt. Soviel wie heute habe ich in meinem ganzen langen Grenzsteinleben noch nie geredet. Nun muss ich mich mal ausruhen. Dafür werde ich hoffentlich hier vor dem Willrother Dorfgemeinschaftshaus Zeit haben. Oder wird man hier vielleicht auch noch ein Industriegebiet anlegen? Man kann ja nie wissen!

A: Ich danke dir, lieber Grenzsteinkollege. Im Übrigen können wir zwei froh sein, dass uns die Willrother gerettet haben, meinst du nicht auch?

B: Da stimme ich dir zu. Von uns gibt es höchstens noch sechs oder sieben Stück. Einige stehen am Hümmericher Dorfmuseum und zwei weitere zum Glück noch an ihren ursprünglichen Standorten im Wald bei Epgert.

 

Sachangaben zur Wiedisch-Churtrierischen Grenze zwischen Gierender Höhe und Marhähnen

  • Grenzstreitigkeiten zwischen Fürstlich Neu-Wiedischer und Churtrierischer Verwaltung im Bereich zwischen Gierender Höhe und Siedlung Marhähnen bei Epgert in der Zeit vor 1786,
  • Verhandlungen über den genauen Grenzverlauf, beginnend 1786,
  • Abschluss der Grenzverhandlungen am 14. Juli 1787,
  • Ort der Verhandlungen: Horhausen,
  • Teilnehmer:
    • von Churfürstlich Trierischer Seite: Hof- und Regierungsrat Angerer
    • von Fürstlich Wiedischer Seite: der Kammerrat Rachenberg und der Rat Bleibtreu.
  • Dem Grenzvertrag ist eine eigens angefertigte Karte beigefugt, in die alle 51 Grenzsteine, einschließlich des Anfangs- und Endpunktes, eingetragen sind.
  • Die Karte trägt die Bezeichnung: "Carte über die verglichene und abgephaehlte Grenzlinie bey Horhausen zwischen Kurtrier und Neuwitt, aufgenommen im Julio 1786 von Wilmowski, Leutnant et Ing. ".
  • Weiterhin heißt es: "Gegenwärtige Charte ist dem zwischen unterschriebenen Fürstl. Wiedischen und denen Kurfürstl. Commissarien getroffenen Vergleich gemäß. Koblentz, den 27ten Aprill 1787 ".
  • Aufbewahrungsort der Karte: Landeshauptarchiv Koblenz; Registratur: LHK Koblenz, Best. 702/Nr. 8755.
  • Als Anfangspunkt der Grenzziehung wird der "Weiße Stein" auf der Gierender Höhe angenommen, der bereits im Jahr 857 n.Chr. bei der Beschreibung der damaligen Großpfarrei Rengsdorf als nördlichster Punkt angegeben wird.
  • Endpunkt des festgelegten Grenzverlaufs ist der "Drey Herren Born" bei der Siedlung Marhähnen im Epgerter Wald. Dort trafen die drei Landesherrschaften Churköln, Churtrier und Wied zusammen.

 

Anmerkungen

  1. Beim Vergleich der noch existierenden Grenzsteine lässt sich feststellen, dass es keine Normierung in der Ausführung gab. Die Schrift- und Zahlengröße ist von Stein zu Stein unterschiedlich. Die Großbuchstaben CT und NW sind jeweils individuell ausgeführt. Einheitlich ist, dass die fortlaufende Nummerierung bei allen Grenzsteinen auf die Churtrierische Seite eingemeißelt wurde.
  2. Als Rohmaterial zur Herstellung der Grenzsteine wurde ein Kalksandstein verwendet, der im heimischen Bereich (obere und untere Grafschaft Wied sowie in der Churtrierischen Herrschaft Horhausen-Peterslahr) nicht vorkam.